Predigt von Prof. Dr. Fernando Enns
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen
Geistes sei mit uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
„Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus
Christus.“ (1Kor 3:11)
Wenn Sie einen Katholiken, einen Lutheraner oder eine Reformierte fragen, woher dieser
Vers stammt, dann werden diese – so sie denn bibelfest sind, antworten: von Paulus! In
seinem 1. Brief an die Gemeinde in Korinth. Wenn Sie hingegen einen Mennoniten fragen,
dann kann es passieren, dass dieser antwortet: Der Vers ist von Menno Simons! Warum? Weil
alle Mennoniten – so sie denn ihre eigene Tradition kennen – eben diesen Vers eindeutig
ihrem Namensgeber aus der Reformation, Menno Simons zuordnen. Es war sein
„Leitspruch“.
Nun kann es natürlich sein, dass Sie – wenn Sie keine Mennoniten sind – nicht einmal wissen,
wer Menno Simons war. Muss man den kennen? Nun, die Frage ist weiter zu stellen: Wen
MUSS man denn kennen, wen erinnern wir denn am Reformationstag? Wen erinnern wir aus
der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts – dieses all-umstürzende Ereignis in der westlichen
Kirche, die ALLES veränderte: die Kirche – aus der dann verschiedene Konfessionen
hervorgingen (man könnte auch sagen: die Einheit der Römisch-katholischen Kirche wurde
zerstört, bis heute); die Gesellschaft wurde verändert – neue Freiheitsrechte wurden erkämpft,
die sich auch mit Gewalt auf Dauer nicht mehr unterdrücken ließen; ideengeschichtlich – man
mag in den Reformationsbewegungen die ersten Funken einer modernen Demokratisierung
erkennen, die auch den Weg zur Aufklärung bereiteten… Menschenrechte.
Aber WEN erinnern wir aus dieser Zeit? Viele sicherlich Martin Luther, der in der kollektiven
Erinnerung einen so breiten Raum einnimmt, dass man fast meinen könnte, EIN Mensch habe
allein all das angestoßen. Andere erinnern Johannes Calvin – zumal in dieser
Heiliggeistkirche, zu der heute noch reformierte Christ:innen pilgern, um den Ort des
Heidelberger Katechismus zu erleben. Wir Mennoniten – und andere Christ:innen der
täuferischen Tradition, wie etwa die Baptisten – erinnern vor allem den dritten Strom der
Reformationsbewegung, die sogenannte „Radikale Reformation“. Und daher bleibt UNS
Menno Simons – neben vielen anderen – im Gedächtnis. Er war es, der den gewaltfreien Teil
der zersprengten Täuferbewegung im niederländischen und norddeutschen Raum sammelte,
durch seine Schriften und Predigten, stets auf der Flucht, stets im Untergrund. Schließlich
nahmen auch viele andere Täufergruppen hier im Süden und in der Schweiz den Namen an –
er signalisierte die Gewaltfreiheit der Bewegung.
Die Frage, WEN wir am Reformationstag erinnern, ist nicht unwichtig, denn dies ist keine
„unschuldige“ Frage. Ich selbst habe ja in dieser schönen Stadt Heidelberg einst Theologie
studiert, und hervorragende Lehrer (tatsächlich fast alles Männer!) genossen. Prof. Seebaß
und Prof. Ritter waren die Granden in der Kirchengeschichte. Übervolle Vorlesungssäle in der
Neuen Uni, wenn es etwas zur Reformation gab. Viel Luther, Melanchton natürlich, auch
Calvin und Zwingli. Und dann vielleicht eine halbe Sitzung im gesamten Semester zu jener
Täuferbewegung. Das wars. Eher eine Fußnote, eine Randerscheinung jener Zeit…
Damals, in den 1980er Jahren, war in so einer main-stream Vorlesung auch noch keine Rede
von irgendwelchen Gräueltaten, die an den Täufern und Täuferinnen verübt wurden, die
AUCH durch die theologischen Autoritäten jener Zeit Legitimation erfuhren. – Ich erinnere
mich gut: da saß ich zwischen Hunderten von anderen Studierenden, von außen nicht
erkennbar als Mennonit, der aber doch so viele Fragen hatte, weil er aus der eigenen
Familientradition bereits so viel gehört hatte über diese mutigen Vorfahren im Glauben, aus
der eigenen Jugendarbeit in der Mennonitengemeinde, aus dem mennonitischen Pfarrhaus.
Was macht man dann? – Nun, ich machte heimlich meinen Frieden damit – „sie wissen es
nicht besser“ – und ging dann in die USA, um dort Täufergeschichte an einem Mennonite
Seminary zu studieren.
Dies, liebe Gemeinde, ist uns heute ein anschauliches Beispiel für die ausnehmende
Bedeutung der Frage: WEN erinnern wir, WIE erinnern wir? – So viele andere Beispiele
könnten hier genannt werden: WEN erinnern wir aus den Bauernkriegen? WEN erinnern wir
aus der Kolonialzeit? WIE erinnern wir die Zeit des Nationalsozialismus? WEN erinnern wir
aus der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland (hier haben Sie jetzt vermutlich erwartet,
dass ich „ehemalige DDR“ sage?). WER entscheidet das, wie wir erinnern, WEN wir
erinnern, WELCHE Stimmen in den Curricula unserer Tage vorkommen… und welche
Stimmen eben totgeschwiegen werden. „Epistemische Gewalt“ nennen wir das heute – auch
in der theologischen Forschung. Und wir beginnen – alle zusammen – uns selbst zu
hinterfragen… Welche Stimmen haben wir bisher überhört, überhören sie bis heute – und
warum eigentlich? So wird uns unsere eigene, verengte Perspektive bewusst…
Und hierbei hilft der Bibelvers – der Leitvers Menno Simons – eben: „Einen andern Grund
kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Weiter könnte man
Paulus paraphrasieren: „Was ist nun Luther? Was ist Menno? Was ist Zwingli? Diener sind
sie, durch die ihr gläubig geworden seid, und das, wie es der Herr einem jeden gegeben hat:
Luther hat gepflanzt, Menno hat begossen; aber Gott hat das Gedeihen gegeben“ … würde
Paulus heute hier der Gemeinde in Heidelberg predigen.
Dies bedeutet aber eben NICHT eine Relativierung all jener großartigen Reformatoren (gab es
nicht auch Reformatorinnen?), sondern eine Einordnung ihrer jeweiligen Leistungen. Wir
sollen und können diese verschiedenen Stimmen und Figuren erinnern – möglichst viele und
auch unterschiedliche von ihnen, weil uns gerade das vor einer Heroisierung einzelner
Theologen bewahrt, die ja schlicht weiter-gebaut haben, was andere vor Ihnen gepflanzt
hatten. Und zwar auf einen Grund, den keiner von diesen selbst gelegt hat, sondern der
„gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“.
Also, auf diesem festen Grund stehend werden dann je und je neue und auch immer wieder
andere Interpreten hervortreten können, vor allem AUCH diejenigen, die zum Verstummen
gebracht wurden, diejenigen, die eben keine Bücher oder Traktate verfasst haben, auch
diejenigen, die nicht main-stream waren, sondern mutig völlig neue Wege beschritten, jene,
die ihre Angst vor Verfolgung, Folter und Tod überwanden, weil ihnen eben dieser Grund –
Jesus Christus – wichtiger war als das eigene Leben. Nachfolge! Gewaltfreies Leben! Taufe
der mündigen Glaubenden, damit sie auch verstehen! Da gab es Leute, die eben nicht wieder
einen „Deal“ mit der Obrigkeit aushandeln wollten.
– Es lohnt sich, so zu erinnern, es lohnt sich, weil mit diesem Erinnerungs-Grund CHRISTUS
auch die Gegenwart, unsere eigene „Story“, in einem neuen Licht erscheinen kann…
So stellt sich nämlich die Frage: Wer sind denn heute die Leute, die wir als „Schwärmer und
Rottengeister“ bezichtigen? Wer sind heute die „Radikalen“, die echt zu weit in ihren
Forderungen zu gehen scheinen? Wer sind heute diejenigen, die wir kriminalisieren, weil wir
vermeintliche „Stabilität“, „Ruhe“ und „Ordnung“ innerhalb unserer Gesellschaft bewahren
wollen? – Bedenken wir das von dem „einen Grund“ aus, „der gelegt ist“?! Stehen wir in
unseren Urteilen auf DIESEM Grund?
500 Jahre Täuferbewegung. Es gibt ja eigentlich nur EINEN vernünftigen Grund, Jubiläen zu
feiern. Um uns erneut dieser Frage zu stellen: WIE wir erinnern, WEN wir erinnern, WAS wir
erinnern – als selbstkritische Überprüfung des kollektiven Gedächtnisses! – Deshalb haben
wir in den vergangenen fünf Jahren in der Ökumene ganz bewusst nicht von „Täuferjubiläum
feiern“ gesprochen, sondern stets ein 500jähriges „TäuferGEDENKEN“ betont.
Und, liebe Gemeinde, das haben wir GEMEINSAM so gestaltet – und dafür bin ich, dafür
sind wir, Kirchen der täuferischen Tradition – unendlich dankbar! Gerade mit dem
konzentrierten Blick auf den einen, gemeinsamen Grund, der gelegt ist – uns allen gemeinsam
in der Ökumene – war es möglich, in diesem Jahr 2025 Schritte der Versöhnung zu gehen.
500 Jahre nach der ersten Erwachsenentaufe in der Reformationszeit: In Zürich fanden 1525
die Studenten Zwinglis den Mut, sich gegenseitig zu taufen, weil sie zu der Auffassung
gelangt waren, dass es nur so zu einer echten Erneuerung der Kirche kommen könnte.
Mündige Christ:innen, die nicht mehr abhängig sind von irgendwelchen kirchlichen
Hierarchien, sondern selbst die Bibel lesen und in der Gemeinschaft auslegen. Gegenseitig
das Abendmahl teilen. Glaubwürdige Nachfolger:innen Christi, die gewaltfrei leben wollen,
und konsequenterweise keinen Kriegsdient mehr leisten. Freie Bürger:innen, die ihren
Glauben leben, ohne dass die Regierung der Kirche irgendwelche Vorschriften machen
könnte. Eide wollten sie nicht mehr schwören, weil ihre primäre Loyalität allein Christus –
dem gelegten Grund – gehören sollte. Wahrhaftig wollten sie sein im Glauben und in der
Lebensgestaltung.
Zu radikal? – Die Herrschenden in Staat und Kirche, auch in der magistralen main-stream
Reformation hatten so viel Angst vor diesen „Radikalen“, dass sie sie mit der Todesstrafe
belegten. Mit ihnen sei „kein Staat zu machen“. Sie gefährdeten die Sache der Reformation. –
Aber für den Erhalt DIESES Staates / für eine „halbherzige Reformation“ waren SIE eben
auch nicht angetreten.
Eine erschreckende Gewaltgeschichte schließt sich an – die ehrlich zu erinnern wahrlich Mut
kostet, vor allem aufseiten derer, deren Glaubensvorfahren diese Gewalt mit zu verantworten
haben. Die Verdammungen (!) der Täufer in zahlreichen lutherischen und reformierten
Bekenntnisschriften sind ein beredtes Zeugnis davon.
Vielleicht hat es deshalb 500 Jahre gedauert, bis nun die Weltgemeinschaft Reformierter
Kirchen gemeinsam mit der Mennonitischen Weltgemeinschaft („Weltkonferenz“) eine
gemeinsame Erklärung verabschiedete, mit dem Titel: „Die Ganzheit unserer Familie
wiederherstellen: Auf der Suche nach einem gemeinsamen Zeugnis“:1 Reformierte Christen
erkennen jetzt an, „dass wir die Erinnerung an die Verfolgung der Täufer weitgehend
verdrängt haben. Wir bekennen, dass diese Verfolgung nach unserer heutigen Überzeugung
ein Verrat am Evangelium war“ – so das starke Schuldbekenntnis der Reformierten heute!
Gemeinsam mit den Mennoniten „bekennen und beklagen“ sie, „dass wir viele Jahrhunderte
lang nebeneinanderher gelebt haben, ohne diese Spaltung des Leibes Christi zu hinterfragen
oder zu ergründen.“
Hier wird Erinnerung korrigiert – geheilt, was die Versöhnung erst möglich macht.
Ökumenische Dialoge sind Friedenszeugnisse – Wegweiser zur Versöhnung, in Christus.
Nicht die Auflösung der Unterschiede ist der Weg, sondern das GEMEINSAME Erinnern –
ausgehend von dem einen, gemeinsamen Grund, „der gelegt ist“. „Wir hören den Ruf Gottes
in den Stimmen derer, die die Kirche daran erinnern, dass sie im Evangelium ihren Grund hat
… Das Evangelium ruft uns dazu auf, uns für eine Welt einzusetzen, in der Gerechtigkeit,
Frieden und die Bewahrung der Schöpfung jedem Lebewesen die Möglichkeit geben, sich in
Fülle zu entfalten.“
„Wir hören Gottes Ruf zur Einheit und zum Frieden, wenn wir die Heilige Schrift auslegen
und an der Taufe und dem Abendmahl teilnehmen – auch wenn wir unsere Unterschiede im
Verständnis der Taufe erkennen und erkunden.“
So wird Versöhnung möglich! … Und das muss ja Folgen haben, wenn diese Versöhnung
denn glaubwürdig sein soll:
„Wir geloben, uns gemeinsam auf den Weg zu machen, um die Wunden der Vergangenheit zu
heilen und den Leib Christi wiederherzustellen. Wir versprechen, voneinander zu lernen,
indem wir den Reichtum und die Vielfalt unserer Traditionen miteinander teilen…“
Liebe Gemeinde,
Versöhnung wurde hier möglich, weil wir uns gemeinsam besonnen haben
auf den einen Grund, der gelegt ist – und der ist eben nicht Menno Simons oder Johannes
Calvin, sondern Jesus Christus – Mensch gewordener Gott, für uns, zur Versöhnung!
Es war ein bewegender Gottesdienst im Großmünster von Zürich, den wir in diesem Frühjahr
feierten und diese Versöhnung mit einer gegenseitigen Fußwaschung (der jeweiligen
Generalsekretäre der Weltgemeinschaften) bekräftigten. Versöhnung braucht Rituale,
sichtbare Zeichen, Versöhnung braucht Öffentlichkeit! SO wird sie glaubwürdig.
(Mit dem Lutherischen Weltbund hatte die Mennonitische Weltgemeinschaft bereits 2010
einen ähnlichen Versöhnungsprozess erlebt).
Die Tatsache, dass wir heute hier in Heidelberg gemeinsam in ökumenischer Vielfalt diesen
Reformationsgottesdienst feiern können – nach einer brutalen Gewaltgeschichte, nach
Verdammungen und gegenseitigen Verschmähungen, nach so viel Ignoranz und Hochmut –
soll uns Mut machen, und uns die Gewissheit schenken: Frieden ist möglich! Eben weil dieser
Grund gelegt ist, Jesus Christus. Deshalb ist Frieden möglich, auch in Palästina/Israel.
Deshalb ist Frieden möglich, auch in der Ukraine! Deshalb ist Frieden möglich, auch im
Sudan! Deshalb ist Frieden möglich, auch in Deutschland – mit all den anders Denkenden,
Zugezogenen und immer Dagebliebenen, anders Glaubenden. Nicht von allein, keineswegs.
WIR, die Kirche, sind berufen zu „Mitarbeiter:innen Gottes“, wie Paulus sagt. WIR sollen
pflanzen, begießen, pflegen – dann „gibt Gott das Gedeihen“. WEIL jener Grund der
Versöhnung längst gelegt ist, welcher ist Jesus Christus – die wahre „Zeitenwende“!
Das glauben wir! DAS erinnern wir, heute. Gemeinsam.
Prof. Dr. Fernando Enns
