Ansprache im Reformationsgottesdienst 2024 von Prof. Paul Kirchhof

Das Verständnis der Menschenwürde im christlichen Glauben und im Grundgesetz

(Ansprache im Ökumenischen Gottesdienst der ACK zum Reformationstag am 31.10.24, Prof. Paul Kirchhof)

Wenn wir heute an die Reformation erinnern und dabei das Recht zu Wort kommen soll, richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen Glauben und individuellem Handeln. Verändert der Glaube das Verhalten der Christen? Soll der Glaube das Verhalten der Christen verändern?

Prof. Paul Kirchhof

1. Voraussetzungslose, aber folgenreiche Anerkennung der Würde

Die Reformation spricht in einer ihrer Kernbotschaften von dem barmherzigen und gerechten Gott, der sich jedem einzelnen Menschen in seiner Individualität und Einmaligkeit zuwendet, ihn durch seine Gnade annimmt und in seinem individuellen Wert und seiner Würde anerkennt. Diese voraussetzungslos gewährte Gnade gibt jedem Menschen seine Würde unabhängig von seinen Taten und Untaten, seiner Verantwortlichkeit und seiner Schuld. Diese voraussetzungslos gewährte Würde behält der Mensch für die Dauer seines Lebens.  Auch sein künftiges Handeln hat keinen Einfluss auf diese Anerkennung.

Doch die voraussetzungslos empfangene Würde enthebt den Menschen nicht aller Verantwortlichkeiten, setzt das Gebot „Du sollst nicht töten“ nicht außer Kraft, sondern bestärkt es. Martin Luther wollte mit seiner Lehre der von Gottes Gnaden empfangenen Würde das Handeln der Menschen verändern. Er reformierte die damalige kirchliche Gemeinschaft mit der These, dass jeder Mensch sein Seelenheil ohne Zahlung einer Spende erreichen, er seine Anerkennung durch göttliche Gnade nicht durch eine Spende verbessern könne.

Auch der Inhalt dieser Kernthese der Reformation weist auf menschliche Verantwortlichkeit. Die durch Gnade gewährte Menschenwürde lebt und entfaltet der Mensch in menschlicher Gemeinschaft, trifft dort auf Menschen, die eine gleiche Würde beanspruchen. In der Gemeinschaft des Begegnens wächst eine Verantwortlichkeit für Wert und Würde des anderen. Wenn der eine Leib und Leben, Gesundheit und Ehre für sich beansprucht, darf der andere – gleich berechtigte – diesen Anspruch nicht missachten. Der Mensch lebt in seinem christlichen Glauben gerecht, wenn er die Würde des anderen anerkennt. Die göttlich gewährte Menschenwürde wird zum Maßstab der Verantwortlichkeit der Menschen untereinander.

Deshalb gibt es keinen Frieden ohne Nächstenliebe, nicht Religion und Kirche ohne die Bindung in der Gemeinsamkeit eines Glaubens, keine verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde ohne die Verbindlichkeit des staatlichen Rechts. Die individuelle Verantwortlichkeit für eigenes Tun ist nicht Voraussetzung, sondern Folge der Würdegarantie. Luthers These ist nicht eigentlich eine Rechtfertigungslehre, weil der Mensch in der Gnade, die er empfangen hat, sich nicht rechtfertigen muss und nicht rechtfertigen kann. Die göttliche Gewähr von Gnade liegt von vornherein außerhalb aller menschlichen Rechtfertigung. Die These enthält eine Anerkennungslehre, die dem Menschen voraussetzungslos Würde schenkt, dann aber als Folge Verantwortlichkeiten für eigenes Tun in der Gemeinschaft aller mit Würde begabter Menschen begründet.

ACK Heidelberg

2. Rechtliche Zuweisung von Würde und Verantwortlichkeit

Das Recht sucht die Welt ein bisschen gerechter zu machen, indem sie jedem Menschen eine Verantwortlichkeit für sein Tun und sein Unterlassen zuweist. Die Eltern sind verantwortlich für ihre Kinder. Der Bäcker garantiert die Qualität seiner Brötchen. Der Arzt steht für die Folgen seines Heilsversuchs ein. Beim abendlichen Gang durch die dunklen Straßen ist der Mensch für seine Friedlichkeit verantwortlich. Nur wenn diese Verantwortlichkeiten verbindlich sind und beachtet werden, gelingt die Freiheitsordnung des gegenseitigen Vertrauens, eines Verantwortungsvertrauens, das in der Präambel des Grundgesetzes für die Verfassungsgebung als eine Verantwortung vor Gott und den Menschen verstanden wird.

Die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde hat zur Folge, dass jeder Mensch, allein weil er Mensch ist, in dieser Rechtsgemeinschaft willkommen ist. Er wird mit seinen Begabungen und seinen Schwächen, seinen Erfolgen und Misserfolgen, seiner Individualität und Eigenart anerkannt.

Am Maßstab dieser jedem Menschen rechtsverbindlich voraussetzungslos zugesprochenen Menschenwürde hatte ich als Richter in Fällen zu entscheiden, in denen ein Sittlichkeitstäter und zugleich sein Opfer ihr Recht begehrten, ein leichtfertiger Brandstifter – er hatte eine brennende Zigarette weggeworfen – verurteilt worden war, zugleich aber die Eltern, die durch den Brand ihre Kinder verloren hatten, Gerechtigkeit erwarteten. Ich war am Urteil über einen Gewalttäter beteiligt, dem als Kind lange kriminelle Gewalt angetan worden war, der deshalb selbst zum Gewalttäter geworden ist. Wir hatten zu entscheiden über das fast unvorstellbare Leid, das ein Krieg verursacht, zugleich über die Schuld derer, die diesen Krieg zu verantworten hatten.

In dieser Erfahrung mit Tätern und Opfern – mit Menschen, die in ihrer Gesamtbiografie sowohl Täter als auch Opfer werden – wird offensichtlich, dass Glauben und Recht dem Täter wie dem Opfer gerecht werden müssen. Die Allgemeinheit der Würdegarantie für jedermann fordert kritischen Respekt für Täter und Trost für Opfer.

Das Grundgesetz stellt an den Anfang den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 GG). Der Mensch nimmt, allein weil er existiert, in dieser Rechtsgemeinschaft an ihrem Recht, ihrem Wohlstand, ihrer Kultur teil – unabhängig von seinen Taten und Verdiensten, seiner Verantwortlichkeit und seiner Schuld. Die Würde ist „unantastbar“ – nicht nur unverletzlich, verbietet schon die Vorstufe des Verletzens, das Gefährdende eines sich Annäherns, Berührens, Antastens.

Art. 1 Abs.1 Satz 2 bestimmt dann: Sie – die Menschenwürde – zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die voraussetzungslos gewährte Menschenwürde hat für alle Staatsgewalt – Regierung, Parlament und Rechtsprechung – zur Folge, dass der Staat selbst die Würde nicht antasten darf („achten“), er die Menschenwürde aber auch gegenüber anderen Menschen zu schützen hat. Diese Schutzpflicht beauftragt die Staatsorgane, die Menschenwürde in den vielfältigen Fragen des alltäglichen Lebens für den Einzelnen zur Wirkung zu bringen. Bei dieser Konkretisierung der aus der Menschenwürde folgenden Verbindlichkeiten gerät die Würdegarantie selbstverständlich in die Gegensätzlichkeit menschlicher Rechtsauffassungen. Die Waage der Justitia gerät in Bewegung, allerdings wegen der unverrückbaren Mitte der vorbehaltlosen Würde nicht ins Wanken.

Die Rechtsprechung muss z. B. am Maßstab der Menschenwürde entscheiden, ob ein Mörder, der nach dem StGB zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, ein kleines Stück Freiheitshoffnung braucht, er durch das Fenster seiner Zelle das Licht einer Rückgewinnung der Freiheit auch für ihn sehen kann. Das Gericht hat deshalb für einen Straftäter bei guter Führung und fehlender Wiederholungsgefahr entschieden, dass er nach 12 Jahren in den offenen Vollzug eintreten darf, er danach in die Freiheit entlassen wird. Die Menschenwürdegarantie sichert die Privatsphäre gegen ein heimliches Abhören, gegen das Fotografiertwerden auch in der Öffentlichkeit, gegen eine Dauerüberwachung. Sie beschränkt das Erheben, Aufbewahren und Nutzen von Daten, gibt dem Menschen, der von seinem biologischen Vater nicht weiß, einen Anspruch auf Kenntnis seiner Abstammung, gewährleistet eine finanzielle Freiheitsgrundlage im Existenzminimum nach dem jeweils erreichten Leistungsniveau der Rechtsgemeinschaft – das war 1949 täglich eine Suppe, ein Wintermantel ein Dach über dem Kopf; das ist heute eine Ausstattung mit Fernseher und Handy. Auch die Diskussion um die Sterbehilfe findet ihr Maß in der Menschenwürdegarantie.

In diesem Grundverständnis dürften Reformation und Grundgesetz im gefestigten Gleichklang übereinstimmen. Der individuelle Glaube betrifft allein die Beziehungen des einzelnen Menschen zu Gott, erlaubt deshalb keine Relativierung. Religion und Kirche entwickeln sich in der Gemeinsamkeit eines Religionsverständnisses und damit einer Bindung in gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme. Das Recht gewährt Berechtigungen in der Beziehung Mensch zu Mensch, bettet jedes Recht in die Gesamtrechtsordnung und deren Grenzziehungen ein.

Wenn die Rechtsfolge Menschenwürdegarantie in der verbindlichen Anerkennung von Wert und Würde jedes Menschen skizziert ist, bleibt die Frage nach dem Berechtigten. Was ist der Mensch? Wollen wir diesen Tatbestand des Berechtigten näher definieren, bestimmen wir den Menschen als ein Lebewesen mit aufrechtem Gang, einer eigenen Sprache, einem Gedächtnis, der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Diese Definition mag den Biologen vielleicht befriedigen, wäre für das Recht aber verhängnisvoll. Sie würde in dieser Präzisierung des typisch Menschlichen gerade diejenigen von der Garantie der Menschenwürde ausnehmen, die ihrer besonders bedürfen – die Menschen, die nicht aufrecht gehen können, die ihre Sprache verloren haben, denen das Gedächtnis fehlt, die sich ihrer selbst nicht vergewissern können. Juristische Definitionen sollen präzise sein, dürfen aber nicht ausgrenzen. Die Idee des zur Würde und Freiheit begabten Menschen muss deshalb ein Tabu bleiben, ein Axiom, eine nicht hinterfragbare Rechtsidee.

3. Keine Verfassung garantiert sich selbst

In diesem Tabu wird zugleich unsere Verantwortlichkeit für das unsere Verfassung prägende Menschenbild sichtbar. Josef von Eichendorff sagt zur Zeit des Hambacher Festes, als erste Chancen für Demokratie und Freiheit in der deutschen Rechtsgeschichte sichtbar werden: „Keine Verfassung garantiert sich selbst“. Es genügt nicht, dass die Menschenwürdegarantie im Bundesgesetzblatt geschrieben steht, dass die Staatsorgane auf sie bei ihrem Amtseid verpflichtet werden, dass wir ein eigenes Organ – das Bundesverfassungsgericht – mit dem Schutz der Verfassung beauftragt haben. Entscheidend ist, dass die Verfassung in den Köpfen des Staatsvolkes vorhanden ist, von diesen Menschen gelebt und praktisch in Wirkung gesetzt wird.

Dieses ist in der Geschichte des Grundgesetzes unter historisch einmaligen Bedingungen gelungen. Gespräche zwischen den Alliierten und den Bundesländern, ein Vorbereitungsakt der zur Bundes-Verfassungsgebung nicht ermächtigten Länder, die mittelbare Wahl des Parlamentarischen Rates und die dort versammelten 65 Fachkundigen konnten eine Verfassung vorschlagen, weil diese den Staatsangehörigen schon als zustimmungsfähig gegenwärtig war. Es gab ein deutsches Staatsvolk, das die Verfassung hervorbringen wird. Die Verfassung sollte für ein Staatsgebiet gelten, das – provisorisch – umgrenzt war. Das Staatsvolk spricht eine gemeinsame Sprache, in der es die Rechtsfragen begreifen und den Verfassungstext formulieren kann. Es verfügt über Grundvorstellungen der Verfassungsinhalte – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit –, die eine Einigung auf ein Verfassungskonzept erlauben. Es bringt ein Verfahren mit, in dem die Entwürfe verfasst, beraten, abgestimmt und veröffentlicht werden. Das Staatsvolk ist im Elementaren bereits verfasst, bevor es sich parlamentarisch repräsentiert förmlich und beurkundet eine Verfassung geben kann.

Auch die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands konnte nur gelingen, weil beide Teile des Staatsvolkes einen ähnlichen Willen zu Freiheit und Demokratie entwickelten. Die evangelischen Kirchen in der DDR und ihre Pfarrer haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen eine Idee von Demokratie („Wir sind das Volk“) und konkreten Freiheiten – der Meinungsäußerung, der Information, des Reisens, der Teilhabe am westdeutschen Erwerbs- und Wohlfahrtssystem – bewahrt, im Vergleich mit Westdeutschland erneuert, vor allem aber mit Freiheitsmut politisch zur Wirkung gebracht haben. Zudemkämpften die Menschen entschieden – das ist die Erfahrung des Richters – für ihre subjektiven Grundrechte, mit denen sie ihr Recht durch das Bundesverfassungsgericht auch gegen die Einstimmigkeit von Bundestag und Bundesrat und eine hundertprozentig gegenläufige Meinungsumfrage der Bevölkerung durchsetzen können.

4. Das Menschenbild prägt und trägt die Verfassung

Das Alte Testament sagt: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis“. Dieser Versuch, das Unsichtbare im Bild sichtbar zu machen, das Unbegreifliche im Gleichnis zu erahnen, gibt jedem Menschen die Möglichkeit, durch Deutung des Gleichnisses in seiner Unbestimmtheit einen persönlichen Weg zu Gott zu finden (Augustinus). In diesem Gleichnis ist der radikalste Freiheits- und Gleichheitssatz der Rechtsgeschichte angelegt, der jeden Menschen als zur Freiheit befähigt ansieht. Dieser Gedanke wird vom Urchristentum in eine Gesellschaft von Herren und Sklaven gesprochen. Er hat mit diesem großen Wort zwar die Gesellschaft nicht schlagartig verändert. Die Verkünder der amerikanischen Menschenrechtserklärung waren teilweise noch Sklavenhalter, haben diesen Konflikt nicht begriffen oder für unerheblich gehalten. Die amerikanischen Unabhängigkeitskriege kämpften noch um das Recht, Sklaven zu halten. Doch das große Wort ist stärker als der Kleinmut derer, die es sprechen.

Die Menschrechtskonvention der Vereinten Nationen kam 1949 unter den Nationen in ihrer religiösen und politischen Vielfalt nur zustande unter der Voraussetzung, dass keiner eine Begründung verlange, dass keiner frage: Warum? Eine Konvention ohne Begründung oder ohne Begründbarkeit würde aber bei der ersten ernsten Belastung wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Menschenrechte brauchen das Fundament von Religion, Weltanschauung, Staatsphilosophie. Deswegen findet jede Verfassung in ihrer Kultur eine ideelle Existenz- und Geltungsgrundlage.

Das Grundgesetz vergleichen wir gerne mit einem Verfassungsbaum. Dieser hat Wurzeln, die im Erdreich liegen, ungeschrieben sind, aber gehegt und gepflegt werden müssen, damit der Baum nicht verdurstet. Diese Wurzeln sind das Christentum, der Humanismus, die Aufklärung, die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts.

Aus diesen Wurzeln erwächst ein Stamm, der weithin erkennbar und unverrückbar die Leitprinzipien der Verfassung sichtbar macht – Menschenwürde und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Republik und Sozialstaat, Bundesstaat.

Aus diesem Stamm wachsen die einzelnen Äste, die vom Gesetzgeber beschlossenen Gesetze, die sich in den Stürmen der Zeit nach links und rechts bewegen, aber jeweils nur so weit, als die Bindung mit dem Stamm nicht verloren geht. Wäre diese unterbrochen, würde der Ast verdorren.

Das Gesamtbild des Baumes ist schließlich bestimmt durch die Blätter. Diese fallen im Herbst ab, gehen substanziell verloren. Wir haben aber die Hoffnung, dass sie im Frühjahr in neuer Kraft wieder erwachsen. Diese Blätter sind die Staatsfinanzen, die im Herbst ausgegeben, im Frühjahr aber als erneuerte Finanzierungsmacht wieder erwartet werden. Auch diese Blätter wachsen nicht neu heran, wenn sie nicht in den Wurzeln ihre Kraft finden.

5. Freiheit und Toleranz

Die in der Menschenwürde angelegte individuelle Freiheit enthält vor allem das Recht, anders zu sein als der andere. Der eine dichtet lyrische Texte, wird reich an Poesiebänden, der andere schreibt Bilanzen, wird reich an Geld. Der eine lernt das Geigenspiel, der andere das Fußballspiel; beide Virtuosen entwickeln unterschiedliche Fertigkeiten, die sich kaum begegnen werden. Wenn diese Menschen ihre persönliche Lebensgestaltung in Freiheit folgerichtig weiterführen, werden die Unterschiede unter ihnen immer größer, die aus der Verschiedenheit erwachsenden Konflikte immer härter. Der freiheitliche Staat hat gelernt, diesen Dissens in einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft zu binden, mit dieser Unterschiedlichkeit und Gegenläufigkeit friedlich umzugehen.

Es ist eine Errungenschaft des Verfassungsstaates, seine Konflikte nicht mehr durch Faust und Fehde, nicht durch Rache und Vergeltung zu lösen, sondern im friedlichen Sprechen über die Lösung des Konflikts. Wir pflegen die öffentliche Debatte, vertragen uns im Konsens des Vertrages, erwarten letztlich von der Recht-Sprechung eine Entscheidung des Konflikts.

Diese Friedlichkeit durch Sprache ist Grundlage der Toleranz, von der der erste Bundespräsident der Republik, Theodor Heuss, gesprochen hat. Toleranz meine nicht den Weichmut der Wohlmeinenden, der jeden Wohlklang für Wahrheit hält, sondern fordere den intellektuellen Kraftakt, der zwischen meiner Freiheit und deiner Freiheit unterscheidet.

Diese für die Entfaltung jedes Menschen in seiner Würde unverzichtbare Toleranz, dieser innere Frieden ist in Deutschland eine glückliche Selbstverständlichkeit. Doch auch diese gegenseitige Wertschätzung, diese Achtung vor dem elementar andersdenkenden Menschen, muss immer wieder errungen werden. Wenn eine öffentliche Demonstration auf die Autobahn verlegt wird, um die Autofahrer in einen Stau zu zwingen, sichern sich die Demonstranten durch den bewussten Schritt in die Illegalität die Aufmerksamkeit der Medien, damit einen Publizitätsvorsprung. Der Verfassungsstaat muss diesem in wohl allen westlichen Demokratien praktizierten Verfahren Grenzen setzen. Für den Staat ist die Meinung des Demonstranten gleich bedeutsam wie der Wille des Autofahrers, seinen Arbeitsort zu erreichen oder mit seiner Familie einen Kaffee zu trinken. Die Gewalt gegenüber den Autofahrern darf das Recht nicht dulden.

Im Arbeitskampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist ein Streik ausnahmsweise ein Instrument zulässiger Gewalt. Wenn aber der Warnstreik bei der Bahn sich gezielt gegen Dritte, die Bahnkunden, richtet, die an dem Arbeitsrechtsverhältnis nicht beteiligt sind und auch die Lohnforderung der Arbeitnehmer nicht erfüllen können, ist die Anwendung dieser Gewalt nicht mehr gerechtfertigt. Sie schwächt den inneren Frieden in Deutschland und die Autorität des Rechts.

Pfr. V. Petracca und Pfrn. S. Baur-Kolster

6. Garanten des Menschenbildes

Wer sind nun die Garanten des Menschenbildes von einem würdebegabten, in seiner Individualität und Einzigkeit anerkannten, für diese Prinzipien in Freiheit verantwortlichen Rechtssubjekt?

Garanten sind zunächst die Kirchen, die uns dieses große Wort, diese idealistische Idee gegeben haben und nun Wort halten müssen. Sodann wirken die Familien im Vorbild der Eltern, dann auch im dadurch bestimmten gemeinsamen Familienleben auf diese geistige Weite und kulturelle Größe einer von der Würde jedes Menschen geprägten Gesellschaftsordnung hin. Der Sport trägt zu gegenseitiger Rücksichtnahme und Regeltreue bei, wenn er die jungen Menschen in Fairness und Fitness schult und sie die Verbindlichkeit der Regel und die Achtung der Schiedsrichterentscheidung lehrt, den sportlichen Gegner mit einem freundlichen Handschlag verabschiedet. Zudem vertiefen alle Gruppen, die sich in Gegenseitigkeit ertüchtigen und in Gemeinschaft Zusammenhalt gewinnen, eine gediegene Grundlage gegenseitiger Achtung und Wertschätzung – die Orchester und Chöre, die Freiwillige Feuerwehr, die Bergwacht und Seerettung, alle bürgerlichen und ehrenamtlichen Organisationen, die Kultur und Selbstlosigkeit pflegen.

7. Das Christentum verweist auf das Jenseits menschlicher Fähigkeiten

Wenn ich den Kerngedanken einer religiös anerkannten und rechtlich garantierten Menschenwürde für jeden Menschen zusammenfasse, liegt in der Allgemeinheit dieser Zusagen, in der Berechtigung von jedermann der Auftrag, diesen Status jedes Einzelnen in seiner Individualität und Singularität anzuerkennen, ihn als prägendes Prinzip der Kultur- und Rechtsgemeinschaft zu verallgemeinern, die Dominanz des einen Menschen zu Lasten des anderen nicht zu dulden. Um dieses hohe Ziel in der alltäglichen Begegnung zu verfolgen, bietet das Recht drei Prinzipien an:

Zunächst anerkennt die Demokratie in der formalen Gleichheit einer geheimen Wahl für jeden Bürger Wert und Würde dieser Menschen. In einer Demokratie verhält sich das Volk zum Staat wie die Hand zum Handschuh. Der Handschuh liegt flach und unbeweglich auf dem Tisch. Erst wenn die Hand sich in den Handschuh schiebt und die Finger sich bewegen, wird der Handschuh, der demokratische Staat, handlungsfähig und wirkmächtig.

Das zweite Prinzip ist die Kultur des Maßes, die für jede Handlung eines Menschen, die einen anderen belastet, Mäßigung fordert, die Selbstkontrolle verlangt, ob die Last als geeignet, erforderlich und zumutbar gerechtfertigt ist. Michelangelo wurde einmal gefragt, wie es ihm gelungen sei, seine wunderbare Statue des David aus einem groben Marmorstein herauszuhauen. Seine Antwort war: „Ich habe nur das Zuviel an Marmor weggenommen“.

Das dritte Prinzip ist das religiöse, idealistische, ins Utopische weisende Prinzip der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Religion prägt das Innenleben des Menschen, spricht deshalb von Liebe. Der Verfassungsstaat regelt das äußere Verhalten des Menschen, spricht deshalb von Achtung: „Achte deinen Nächsten wie dich selbst!“ Dieses Gebot fordert, (1.) dass der Mensch eine Selbstachtung entwickelt, sich bewusst Maßstäbe setzt, um ein anständiges, ein ehrbares, ein verantwortliches Leben zu führen. Hat er diese Maßstäbe gewonnen, wendet er sie (2.) in der Begegnung mit dem anderen auf diesen an.

Dieses Postulat strebt nach etwas nie Erreichbarem, kaum Vorstellbarem, dem sich der Mensch täglich nur Schritt für Schritt annähern kann. Gerade das aber ist Inhalt des christlichen Glaubens, der über die menschliche Existenz und die menschlichen Fähigkeiten hinausgreift, den Menschen auf ein Jenseits ausrichtet. Der Mensch nähert sich heute einen kleinen Schritt diesem Ideal, lässt morgen einen zweiten Schritt folgen. Wenn das die Botschaft des Christentums ist, wenn das zum Kernauftrag des Grundgesetzes gehört, gibt der heutige Reformationstag Anlass, ihn als Fest des Glaubens, der Ökumene, einer Wurzel des Verfassungsstaates zu feiern. Die Posaunen ertönen heute besonders klangvoll.